Arzneimitteltherapiesicherheit: Hätten Sie es gewusst?

1. November 2022

Sie überlegen, der 72jährigen Frau Müller aufgrund einer neu aufgetretenen Depression Citalopram (20mg 1xtägl.) zu verordnen. 

Was könnte hier passieren?

Ein Blick auf ihre Vorerkrankungen zeigt, dass sie vor einigen Jahren ein Magengeschwür hatte, an einer Gonarthrose leidet, und 1-2xtägl. Diclofenac 75mg einnimmt. Gibt es hier vielleicht doch ein Problem?

Zahlreiche Studien zeigen, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) wie Citalopram, Fluoxetin oder Paroxetin das Risiko für gastrointestinale Blutungen etwa verdoppeln. In Kombination mit nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR, inkl. niedrig-dosierter Acetylsalicylsäure), die allein das Risiko etwa verdreifachen, wurde eine etwa 6-fache Erhöhung des Blutungsrisikos nachgewiesen.

Das absolute Risiko ist stark vom patientenindividuellen Grundrisiko abhängig. Eine Meta-Analyse gibt die number needed to harm (NNH) für über 50-jährige Patienten ohne weitere Risikofaktoren, die SSRI einnehmen, mit 411 (pro Jahr) bzw. mit 106 bei Kombination von SSRI mit NSAR an. Für Patienten, die schon einmal wegen eines Ulkus behandelt wurden, sinkt die NNH auf 177 (SSRI allein) bzw. 46 (SSRI plus NSAR); waren die Patienten aufgrund einer oberen gastrointestinalen Blutung jemals stationär behandelt, ist die NNH 70 bzw. 19 (pro Jahr).

Neuere Untersuchungen zeigen außerdem, dass unter Therapie mit SSRIs oder SNRIs auch das Risiko für Hirnblutungen etwa 1,5-fach erhöht ist.

Ein erhöhtes Blutungsrisiko besteht auch bei Kombination von SSRI mit Thrombo­zyten­aggregations­hemmern oder direkten oralen Antikoagulantien (DOAK). Bei der Gabe von SSRI und DOAK ist es etwa doppelt so hoch wie bei der Gabe von DOAKs allein.

Ursache für die verstärkte Blutungsneigung unter SSRI ist vermutlich die Wirkung von SSRI auf den Serotonin-Spiegel der Thrombozyten, da Serotonin-Transporter nicht nur im Gehirn vorkommen. Als Antwort auf eine Verletzung spielt die Freisetzung von Serotonin aus den Blutplättchen eine wichtige Rolle bei der Regulierung der Hämostase. Da diese jedoch nicht selbst Serotonin bilden können, wird es aus dem Blutkreislauf mittels Serotonin-Transporter in die Blutplättchen aufgenommen. SSRI hemmen diese auch an Thrombozyten, wodurch weniger Serotonin in die Thrombozyten gelangt. In Folge wird die Thrombozytenaggregation, die Sekretion von Plättchenfaktoren und die Gerinnungskaskade beeinträchtigt.

Wie lässt sich das Problem vermeiden?

  • Bei der Therapie mit Schmerzmitteln können – wenn möglich – andere Analgetika eingesetzt werden. Alternativen sind beispielsweise Paracetamol, Metamizol oder Tilidin/Naloxon. Systemische Glucocorticoide sind unter dem Gesichtspunkt des gastrointestinalen Blutungsrisikos eher nicht empfehlenswert. Unter Umständen können auch topische Anwendungsformen in Betracht gezogen werden. Möglicherweise erhöhen Coxibe das Blutungsrisiko weniger stark als unselektive NSAR, aber die Datenlage zu dieser Frage wird im Allgemeinen als unzureichend bewertet.
  • Alternativ kann – insbesondere bei Patienten mit Hirnblutungen, gastrointestinalen Blutungen und Magengeschwüren in der Vergangenheit – eine Therapie mit anderen Antidepressiva, z.B. trizyklischen Antidepressiva (TZA) wie Amitriptylin, Trimipramin oder Doxepin in Betracht kommen. Unter anderem aufgrund des kardiovaskulären Risikos ist dies jedoch nicht immer eine gute Alternative, und für ältere Patienten gelten sie als potentiell ungeeignet (Priscus-Liste). Mirtazapin oder Opipramol können, vor allem bei Patienten mit Schlafproblemen, eine Option sein; als nicht-sedierende Substanz kann Bupropion in Frage kommen.
  • Lässt sich die Kombination SSRI plus NSAR nicht vermeiden oder stellt nach eingehender Nutzen-/Risikobewertung die günstigste Alternative dar, kann das Risiko gastrointestinaler Blutungen durch die zusätzliche Gabe von Protonenpumpeninhibitoren (PPI) oder H2-Blockern minimiert werden. Dieses Vorgehen wird auch in den einschlägigen Leitlinien empfohlen.
  • Eine Aufklärung von Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko, die SSRI erhalten, ist wichtig, da die meisten NSAR auch ohne Rezept im Rahmen der Selbstmedikation in Apotheken bezogen oder von anderen Ärzten unkritisch verordnet werden können.

 

Fazit:

Patienten mit einem erhöhten Blutungsrisiko, z.B. aufgrund einer Therapie mit NSAR (insbesondere unter Therapie mit ASS), DOAKs, oder Thrombozytenaggregationshemmern, vor allem in Verbindung mit einem Blutungsereignis in der Vergangenheit (Hirnblutung, gastrointestinale Blutungen oder Magengeschwür) sollten vorsichtshalber

  • nicht mit SSRI behandelt werden (evtl. auf andere Antidepressiva ausweichen) und/oder
  • auf eine weniger blutungsrisikoreiche Schmerztherapie umgestellt werden und/oder
  • zusätzlich mit Säurehemmern behandelt werden.

Da NSAR leicht verfügbar und oft unkritisch verwendete Medikamente sind, ist es wichtig, Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko, die mit SSRI behandelt werden, über diese Problematik aufzuklären.

 

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LITERATUR:

[1]   de Jong JCF et al. Combined use of SSRIs and NSAIDs increases the risk of gastrointestinal adverse effects. Br J Clin Pharmacol. 2003; 55(6): 591-595

[2]   Loke YK et al. Meta-analysis: gastrointestinal bleeding due to interaction between selective serotonin uptake inhibitors and non-steroidal anti-inflammatory drugs. Aliment Pharmacol Ther. 2008; 27(1): 31–40

[3]   de Abajo FJ, García-Rodríguez LA. Risk of upper gastrointestinal tract bleeding associated with selective serotonin reuptake inhibitors and venlafaxine therapy: interaction with nonsteroidal anti-inflammatory drugs and effect of acid-suppressing agents. Arch Gen Psychiatry. 2008; 65(7): 795–803

[4]   Rosien U. Deprescribing PPI: Weniger Protonenpumpeninhibitoren-Verordnung ist möglich! Arzneiverordnung in der Praxis 2019; 46: 114–118       

[5]   Dirkwinkel J, Bschor T. Intrakranielle Blutungen unter Antidepressiva: Erkenntnisse aus neuen systematischen Übersichtsarbeiten und Fall-Kontroll-Studien. Arzneiverordnung in der Praxis 2020; 47(3-4): 118-121

[6]   Zhang Y et al. Risk of major bleeding among users of direct oral anticoagulants combined with interacting drugs: A population-based nested case-control study. Br J Clin Pharmacol. 2020; 86(6): 1150-1164

[7]   S2k-Leitlinie Helicobacter pylori und gastroduodenale Ulkuskrankheit der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS); Juli 2022, AWMF-Register-Nr. 021–001

[8]   Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression; September 2022, 3. Auflage

 

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