Arzneimittel­therapie­sicherheit: Hätten Sie es gewusst?

Ein 58-jähriger Patient nimmt aufgrund seiner Hypertonie seit langem Ramipril/Amlodipin 5/5 mg ein. Sie überlegen, dem Patienten aufgrund zurückliegender Gichtanfälle zusätzlich eine Therapie mit Allopurinol 100 mg zu verordnen.

Was könnte passieren?

Arterielle Hypertonie ist ein bekannter Risikofaktor für Gicht.1 Laut einer großen deutschen epidemiologischen Studie wiesen ca. 80 % der Gichtpatienten Hypertonie als Comorbidität auf.12 Da es sich um typische Volkskrankheiten handelt, die häufig Hand in Hand gehen, ist die Kombination von ACE-Hemmern und Allopurinol in der ärztlichen Praxis weit verbreitet. Es stellt sich die Frage: Ist trotz der gewählten leitliniengerechten Therapie beider Erkrankungen mit einem Problem zu rechnen?1,2

Die Kombination von Allopurinol und ACE-Hemmer wird mit folgenden Risiken in Verbindung gebracht:4,5

  1. erhöhtes Risiko von immunologischen (Haut-)Reaktionen, z. B. Stevens-Johnson-
    Syndrom (SJS) oder toxische epidermale Nekrolyse (TEN)
  2. erhöhtes Risiko für hämatologische Reaktionen wie Leukopenie, Neutropenie/Agranulozytose, Thrombozytopenie und Anämie

Aufgrund einiger Fallberichte von Überempfindlichkeitsreaktionen (z. B. SJS, TEN) nach gemeinsamer Gabe von ACE-Hemmern und Allopurinol wird in der Fachinformation und darauf basierenden Quellen auf ein erhöhtes Risiko geschlossen.4,9-11 Dieser Zusammenhang konnte jedoch in Studien nicht belegt werden. Im Rahmen des multinationalen EuroSCAR-Projekts, einer Fall-Kontroll-Studie zu schweren kutanen Nebenwirkungen, zeigte sich z. B. kein signifikant erhöhtes Risiko für SJS oder TEN bei gemeinsamer Gabe von Allopurinol und anderen Medikamenten, einschließlich ACE-Hemmern.3 Zum selben Ergebnis kam eine groß angelegte retrospektive Populationsstudie bei taiwanesischen Patienten.8 Es erscheint daher unwahrscheinlich, dass auftretende Hautreaktionen auf die Kombination von Allopurinol mit ACE-Hemmern zurückzuführen sind.

Im Gegensatz dazu führen andere Risikofaktoren (u. a. Niereninsuffizienz ab Grad 3, HLA-B*58:01 positive Patienten (gehäuft bei bestimmten asiatisch-stämmigen Patienten), hohe Dosis von Allopurinol) nachweislich zu einem erhöhten Risiko von schwerwiegenden Hautreaktionen unter Allopurinol.1,3,7,8

Unabhängig davon wird herstellerseitig vor einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Blutbildveränderungen bei gleichzeitiger Anwendung von ACE-Hemmern mit Allopurinol gewarnt.5 Als besonders gefährdet werden Patienten mit zusätzlichen Risikofaktoren wie eingeschränkter Nierenfunktion genannt.5,13 Dieser Warnhinweis beruht auf der Grundannahme einer additiven Verstärkung gemeinsamer hämatologischer Nebenwirkungen.15 Hinsichtlich des Mechanismus sind synergistische unerwünschte Wirkungen auf die Blutbildung vorstellbar, da sich Ramipril und Allopurinol pharmakokinetisch nicht in ihren Abbauwegen beeinflussen.4,5 Auch hier liegen aus Studien keine Hinweise auf eine konkrete Risikoerhöhung vor.


Was ist zu tun?

Werden Patienten mit Allopurinol behandelt, sollte in den ersten Wochen der Anwendung besonders auf unerwünschte Hautreaktionen geachtet werden. In Studien war das Risiko SJS oder TEN zu entwickeln bei Patienten, die Allopurinol einnahmen zu Therapiebeginn, vor allem in den ersten 2 bis 3 Monaten, am höchsten.3,6,8 Eine sorgfältige Patientenaufklärung über initiale Symptome von SJS/TEN ist zweckmäßig, um ggf. schnell reagieren zu können. Bei Auftreten einer Überempfindlichkeitsreaktion, muss Allopurinol sofort abgesetzt werden.5

Da schwere hämatologische Störungen (z. B. Agranulozytose) nur selten mit Allopurinol bzw. ACE-Hemmern assoziiert sind, erscheint eine routinemäßige Überwachung des Blutbildes, wie in den Fachinformationen empfohlen, nicht sinnvoll.4,5,13

Die Dosierung von Allopurinol muss bei Niereninsuffizienz ab Grad 3 angepasst werden.7,14 Laut ACR-Guideline Management of Gout wird eine Initialdosis von ≤ 100 mg Allopurinol für alle Patienten empfohlen, u. a. um die Risiken einer Hypersensitivitätsreaktion zu minimieren.7 Bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz sollte die Dosis auf 50 mg reduziert werden.7,14 Dosissteigerungen sollten schrittweise bis zur erforderlichen Zieldosis erfolgen.7

Um einem erneuten Gichtanfall vorzubeugen, wird bis zu 6 Monate nach Beginn einer harnsäuresenkenden Therapie zusätzlich Colchicin (alternativ NSAR oder Glucocorticoide) empfohlen.1,7

Grundsätzlich sollte die Indikation zur Verordnung von Allopurinol streng gestellt werden. Vor allem vom Einsatz bei asymptomatischer Hyperurikämie ist angesichts des Risikopotenzials abzusehen.7,8 Nach 5 Jahren effektiver Therapie kann erwogen werden, eine harnsäuresenkende Medikation zu beenden.1

 

Fazit:

Allopurinol birgt bereits als Monotherapie das Risiko für seltene, aber potenziell schwerwiegende hämatologische und immunologische Nebenwirkungen. Inwieweit die in verschiedenen Quellen genannte Kombination mit ACE-Hemmern zu einem erhöhten Risiko führt, ist aufgrund inzwischen vorliegender Studiendaten zu bezweifeln.

Bei adäquater Dosierung, Überwachung und eingehender Patientenaufklärung, insbesondere zu Beginn der Behandlung und bei Risikopatienten (Niereninsuffizienz, fortgeschrittenes Alter, genetische Disposition (v. a. asiatische Herkunft)), ist das Risiko einer schwerwiegenden Nebenwirkung gering, nur sehr selten sind auch tödliche Hypersensitivitätsreaktionen möglich.

 

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Literatur:

[1] DEGAM S2e-Leitlinie Häufige Gichtanfälle und chronische Gicht; März 2019; AWMF Registernummer 05 – 032a 

[2] ESC/EHS Pocketguidelines Management der arteriellen Hypertonie; Version 2018

[3] Halevy S et al. Allopurinol is the most common cause of Stevens-Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis in Europe and Israel. J Am Acad Dermatol. 2008 Jan;58(1):25-32

[4] Fachinformation Allopurinol Aristo; Aristo Pharma; April 2022

[5] Fachinformation Delix; Sanofi-Aventis; April 2021

[6] Mockenhaupt M et al. Stevens-Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis: assessment of medication risks with emphasis on recently marketed drugs. The EuroSCAR-study. J Invest Dermatol. 2008 Jan;128(1):35-44

[7] FitzGerald JD et al. 2020 American College of Rheumatology Guideline for the Management of Gout. Arthritis Care Res (Hoboken). 2020 Jun;72(6):744-760

[8] Yang CY et al. Allopurinol Use and Risk of Fatal Hypersensitivity Reactions: A Nationwide Population-Based Study in Taiwan. JAMA Intern Med. 2015 Sep;175(9):1550-7

[9] Arellano F Sacristán JA Allopurinol hypersensitivity syndrome: a review. 1993 Annals of Pharmacotherapy; 27(3):337-343

[10] Buenrostro-Rubio I et al. Allopurinol-Induced Toxic Epidermal Necrolysis. Drug Saf Case Rep. 2019 Sep 23;6(1):8

[11] Yokose C et al. Heart disease and the risk of allopurinol-associated severe cutaneous adverse reactions: a general population-based cohort study. CMAJ. 2019 Sep 30;191(39):E1070-E1077

[12] Kiltz U et al. The Prevalence and Incidence of Gout, Its Associated Comorbidities and Treatment Pattern: An Epidemiological Study from Germany [abstract]. Arthritis Rheumatol. 2018

[13] Andrès E et al. Diagnosis and Management of Idiopathic Drug-Induced Severe Neutropenia and Agranulocytosis 2017

[14] Hui M et al. The British Society for Rheumatology Guideline for the Management of Gout. Rheumatology (Oxford). 2017 Jul 1;56(7):e1-e20

[15] Product monograph (Health Canada) Bio-Ramipril; Biomed Pharma; Januar 2021

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